EURYTHMIE

Eurythmie ist eine zeitgenössische Bewegungskunst

 

«Nur kurz kann ich erwähnen, wie Goethe der Anschauung ist, dass jedes einzelne Glied eines Lebewesens in einer geheimnisvollen Art wie ein Ausdruck des ganzen Lebewesens ist und wiederum wie ein Ausdruck jedes anderen einzelnen Gliedes. Goethe betrachtet die werdende Pflanze, wie sie wird, Blatt für Blatt, bis hinauf zur Blüte und zur Frucht. Er ist der Anschauung, dass dasjenige, was wir als farbiges Blumenblatt bewundern, nur eine Umgestaltung ist des grünen Laubblattes, ja, dass sogar die feineren Blütenorgane, die in der äußeren Gestalt sehr unähnlich einem gewöhnlichen grünen Laubblatt sind, doch nur eine Umwandlung dieses grünen Laubblattes sind. In der Natur ist überall Metamorphose. Darauf beruht gerade die Gestaltung des Lebendigen, dass überall Metamorphose ist. (...)

Das aber ist angewendet auf alles Lebendige, vor allen Dingen auf das Urbild alles Lebendigen, auf die menschliche Gestaltung und auf die menschliche Bewegung, auf die menschliche lebendige Tätigkeit selbst. Und das sollte eben in dieser eurythmischen Kunst zum Ausdrucke kommen. Da sollten gerade geheimnisvolle Naturgesetze der menschlichen Wesenheit selber zum sichtbaren Ausdrucke kommen. (...)

Was in der menschlichen Seele lebt, wie es sonst ausgedrückt ist durch das Organ des menschlichen Sprechens, durch den Kehlkopf, soll ausgedrückt werden durch den ganzen Menschen, durch seine Bewegungen, durch seine Stellungen. (...)

Nun ist aber in der menschlichen Sprache nicht bloß das enthalten, was sonst in Lauten und Lautfolgen zum Ausdrucke kommt, sondern es spricht sich das Ganze der menschlichen Seele aus: Gefühl, innere Wärme, Empfindung, Stimmung und so weiter. Daher ist unsere eurythmische Kunst auch bestrebt, dieses alles, was durch das Medium der Sprache zur Anschaulichkeit kommt, zum Ausdruck kommt, auch sichtbarlich darzustellen.

Wir haben es also mit einer Bewegungskunst zu tun, mit Bewegungen des einzelnen Menschen, aber auch mit Bewegungen von Gruppen, mit Bewegungen, die Stimmungen, Empfindungen, Wärme auszudrücken haben, welche die Sprache durchglühen und durchziehen.»

Rudolf Steiner, Eurythmie, Die Offenbarung der sprechenden Seele, GA 270S. 53-55: der Grundgedanke der eurythmischen Kunst; Dornach, 13. März 1919, zur ersten öffentlichen Eurythmie-Aufführung am Goetheanum

In den Zehnerjahren des letzten Jahrhunderts initiierte Rudolf Steiner (1861 – 1925) die Eurythmie als neuen Kunstimpuls. Der Zeitgeist war ein Suchen nach neuen Inhalten und Formen. Gerade im Bereich Tanz und Bewegungskunst waren viele aufgebrochen und  Zeitgenossen wie Isadora Duncan, Rudolf von Laban, Émile Jaques-Dalcroze u.a. bereiteten Wege zu neuem Tanz und zu neuer Ästhetik.

Rudolf Steiners Ansatz war aber noch stärker ein Innerer. Schon lange habe er eine auf «ätherischen Bewegungsimpulsen beruhende Bewegungskunst erstrebt» (Steiner, GA 277 a) um mit ihr unter anderem auch eine Sprache für die anthroposophische Erkenntnis zu bilden. Am Anfang stand das gesprochene Wort und die Bewegung, die Musik kam erst später dazu. Die junge Lory Maier-Smits war Steiners erste Schülerin und erarbeitete in den Anfängen vieles selbständig aus Steiners Angaben: Alliterationen schreiten, Anatomie vertiefen, griechische Bildwerke anschauen, erste Sprachübungen und auch die Stellungen der Zeichnungen des Agrippa von Nettesheim bilden.

Aus diesen Anfängen entwickelte sich schnell eine Gruppe Interessierter. Es wurden erste kleine Vorstellungen gegeben, um dann schliesslich 1919 den Schritt in die Öffentlichkeit zu wagen, mit einer Vorstellung im Pfauentheater in Zürich. Grundlagen bilden bis heute Steiners Kurse zur Toneurythmie (Musik) und zur Lauteurythmie (Sprache), beide 1924 in Dornach gehalten.

Eurythmische Kunst wurde und wird an vielen Schulen weltweit gelehrt und lässt sich in drei Hauptbereiche aufteilen: Kunst, Pädagogik und Therapie (Heileurythmie).

 

Musik und Poesie, Farben und Formen werden in der eurythmischen Kunst in Bewegung ausgedrückt und erlebt. Verschiedene Kunstaspekte verbinden sich in der Eurythmie und es öffnen sich neue Räume – beim Zuschauen der Eurythmie auf der Bühne wie auch beim selber bewegen.

Die Eurythmie ist eine Arbeit mit den Lebenskräften, sie belebt den Körper, die Seele und den Geist. Durch sie können wir uns mit den aufbauenden Quellen des Lebens verbinden und schaffen so eine Balance zum alltäglichen Leben, welches uns mit seinem strengen Takt und seinem kurzatmigen Rhythmus herausfordert. Schönheit und Harmonie sind keine leeren Begriffe, in der Eurythmie entfalten sie ihre Kraft und bringen neues Bewusstsein für Körper und Leben.